Wenn Glasbausteine schlimme Erinnerungen wecken

„Ich wollte Deutsch und Sport studieren – zwei möglichst unpolitische Fächer“ – so begründete Hartwig Kluge, geboren 1947 in Halle an der Saale, der als Referent im Leistungsfach Geschichte zu Besuch war, seine Wünsche für seinen weiteren Lebensweg nach dem Abitur.

Und so stellte er sich als sehr guter Schüler und sportlicher junger Mann, ermuntert durch die Fachlehrer, der erforderlichen Aufnahmeprüfung in Halle. Alles schien gut zu laufen. Doch dann kam das deprimierende Ergebnis: durchgefallen – verbunden mit dem Ratschlag, sich nach dem Abitur und einem Jahr Arbeit in einer Fabrik nochmals zu bewerben.

Das tat Kluge nicht. 1967 war ihm noch nicht ganz klar, wieso er abgewiesen worden war; mangelnde Leistung war es nicht gewesen. Gleichwohl wuchs die Sehnsucht nach einem selbstbestimmten und von politischem Zwang freien Leben. Der Prager Frühling weckte nochmals Hoffnung, dass sich das Leben in der DDR ändern könnte. Als aber in der Tschechoslowakei Panzer rollten, war Kluge klar: Er will und muss die DDR verlassen.

Als Fluchtweg wählte er die Route über ein Drittland: Der Plan war, mithilfe von Fluchthelfern in Pécs (Ungarn) über Jugoslawien in den Westen zu kommen. Ohne Wissen der Eltern, denn auch Mitwisserschaft einer Republikflucht galt als „Staatsverbrechen“, reiste Kluge am 3.1.69 nach Budapest, von dort weiter zum mit den Fluchthelfern vereinbarten Treffpunkt. „Wisst ihr, was die Nachrichtensprecherin,  Frau Daubner, und ich gemein haben?“ fragt Kluge an dieser Stelle seines biographischen Berichts die Schüler. Nur 4 km von Kluges geplanter Fluchtstelle entfernt floh im Jahre 1988 Susanne Daubner, indem sie 5 Stunden durch die Drau schwamm. Was bei Frau Daubner gelang, blieb Herrn Kluge versagt: Er wurde beim Grenzübertritt von einem ungarischen Soldaten mit vorgehaltener Waffe aufgehalten und nach Pécs in Gefängnis gebracht. Nach Tagen der Inhaftierung unter erniedrigenden Umständen wurde Kluge nach Ost-Berlin ausgeflogen. Wie ein Verbrecher wurde der junge Mann in Handschellen unter aller Augen über das Rollfeld abgeführt.

Es folgte eine schlimme Zeit im Zuchthaus in Halle, im sogenannten „Roten Ochsen“. Die zugewiesene Zelle war ausgestattet mit Pritschen mit Strohsack und Decke, einem Eimer für die Notdurft; der Blick nach draußen war verwehrt, das Fenster bestand aus Glasbausteinen.  Bei einem Besuch viele Jahre später in einem öffentlichen Gebäude in Freiburg waren ebensolche Glasbausteine ein aufwühlendes „Déjà – vu“. Hartwig Kluge wurde seines Namens beraubt, war fortan die Nummer 542, Zelle 54, Pritsche 2. Das Licht brannte Tag und Nacht, die Gefangenen durften sich nicht so in den Zellen bewegen, wie es ihnen beliebte, so waren z.B. die  Liegestützen verboten, die Kluge machen wollte, um sich etwas fit zu halten.  Es folgten zahlreiche Verhöre, das längste dauerte 20 Stunden.  Die Stasi-Offiziere wollten dem „Staatsfeind und Verbrecher“ eventuelle Mitwisser und Helfer der Flucht entlocken. Voll Zufriedenheit und Stolz wusste Kluge zu berichten, dass er sich nicht brechen ließ.  Nach 22 Verhören fand die sogenannte Gerichtsverhandlung statt und es erging im „Namen des Volkes“ das Urteil, dass Kluge mit seiner versuchten Flucht gesellschaftswidrig gehandelt habe, politisch und moralisch gefährlich und den Frieden gefährdend sei. Das daraus resultierende Urteil lautete 1 Jahr und 6 Monate Haft.

Der Strafvollzug sollte in Cottbus erfolgen, einem Gefängnis, in dem 700 politische Häftlinge einsaßen. Je 16 Männer mussten sich eine enge Zelle mit Stockbetten teilen. 

Kluge hatte Glück im Unglück. Er wurde im Dezember 69, vor Ablauf der Haftstrafe unvermittelt nach Chemnitz verlegt und von einem Stasi-Offizier mit den Worten „Strafgefangener Kluge, Sie sind nicht würdig, in der sozialistischen Gesellschaft zu leben, wir entziehen Ihnen die Staatsbürgerschaft“  ausgebürgert. Dieser Ausbürgerung lag der Häftlingsfreikauf durch die BRD zugrunde. Seit 1970 lebt Hartwig Kluge in Freiburg.

2003: Hartwig Kluge nimmt Einsicht in seine Stasi-Akten, zwei dicke Ordner liegen vor ihm. Darin findet er auch einen Brief seines Schulleiters aus dem Jahr seiner Bewerbung an der Hochschule Halle: „Kluge stammt aus einem bürgerlich negativen Haushalt. Er ist Mitglied der jungen Gemeinde, hört das Deutschlandlied und schaut Westfernsehen.“  Das war also der Grund für die geplatzten Jugendträume eines jungen Menschen, der einfach nur frei sein wollte.

Michaela Gerhardt