Zeitzeugenbesuch von Hartwig Kluge

„Schach war für mich acht Tage eine Lebenshilfe“

Die Veranstaltung beginnt mit einer Gedankenreise, „Schließt die Augen“, fordert Hartwig Kluge die Klasse auf, „und stellt euch vor, wie euer Leben aussehen könnte, wenn ihr 21 seid.“

Die glückseligen Träume vom Traumstudium, Hand-in-Hand mit einem Herzensmenschen an fernen Sandstränden, unendlichem Spaß und Lebenslust mit Freunden werden jäh unterbrochen. „Als ich in diesem Alter war, fand ich mich in einer kalten, dunklen, nassen und stinkenden Zelle wieder“, hören die Schüler Kluge berichten.

Den Weg zu besagter Situation schildert der Zeitzeuge eindringlich: Von früher Jugend an zeigt er sich systemkritisch; so weigert er sich 1968 zur Wahl zu gehen. Prompt klingelt es an der elterlichen Tür: Wo denn der Sohn sei, will der ABV (Abschnittsbevollmächtigter, Polizist der Volkspolizei) wissen. Der Vorfall führt zu einem Eintrag in die Stasiakte, herrschte in der DDR doch Wahlpflicht. Es war nicht der erste Eintrag, wie Kluge nach dem Fall der Mauer und Einsicht in die Stasi-Akten erfahren musste. Auch der Traum vom Sport- und Deutschstudium war daran gescheitert, dass der Schulleiter der Hochschule Halle gemeldet hatte, dass Kluge aus „einem bürgerlich-negativen Haushalt“ stamme. Der Vater war Tierarzt in der eigenen Praxis, hatte eine Verstaatlichung verweigern können. Kluge sei Mitglied der jungen Gemeinde, höre das Deutschlandlied und schaue Westfernsehen. „Alles richtig“, sagt Kluge, „aber in der DDR eben verboten.“ Dem jungen Mann wurde das Leben in der DDR zunehmend zu eng und so reift der Entschluss zu fliehen. Über die ungarische Grenze sollte es, so war die Hoffnung, leichter gehen als über die hermetisch abgeriegelte innerdeutsche Grenze. Akribisch ausgelotet, unterstützt von drei jungen Ungarn, die Kluge und ein Freund bei der Recherche im Vorfeld am Balaton kennengelernt hatte, kam der Tag der geplanten Flucht, der 3.1.69. Doch beim Grenzübertritt wurde er von einem ungarischen Soldaten mit vorgehaltener Waffe aufgehalten, ebenso nervös wie Kluge selbst. Schon längst hatte das perfide Grenzsystem unbemerkt die geplante „Grenzverletzung“ gemeldet. Kluge wurde nach Pécs in eine Kaserne gebracht. „Das war der schlimmste Tag in meinem Leben“, knüpft der Zeitzeuge an die eingangs geschilderte Situation an. Nach Verlegung nach Budapest und vier Wochen der Inhaftierung unter erniedrigenden Umständen, auf dem Rücken auf einer Pritsche liegend, ohne Kommunikationsmöglichkeit, die einzige zeitliche Orientierung war das Schlagen der nahegelegenen Kirchturmglocken, wurde Kluge, wie ein Verbrecher bewacht, in die DDR ausgeflogen und in Halle im „Roten Ochsen“ in Einzelhaft genommen. Dort wurde der junge Mann seiner namentlichen Identität beraubt, war fortan nur noch Nummer 542 – Zelle 54, Pritsche 2. Es folgen unzählige Verhöre, das längste 22 Stunden lang. Doch der „Strafgefangene“ Kluge lässt sich nicht brechen, lässt sich nicht die Namen der jungen Ungarn entlocken, die ihm geholfen hatten. Auch dem „Angebot“ der Stasi, sich doch Hilfe durch Mithilfe, also Bespitzelung von Mithäftlingen, zu verdienen, widersteht Kluge. In den Stasiakten ist zu lesen: „Der K. richtete sich auf und sagte: Ihr könnt mit mir machen, was ihr wollt, aber ich werde nie für euch unterschreiben.“

Ab diesem Zeitpunkt endet die Einzelhaft, die Haftbedingungen sind aber nicht minder menschenunwürdig. Die einzige Kontaktaufnahme aus der Zelle raus ermöglicht das sogenannte Knastalphabet. Dabei unterhalten sich die „Knastologen“, wie sich die politischen Häftlinge nennen, mittels Klopfzeichen an die Zellenwand, wobei die Anzahl der Klopfzeichen für jeden Buchstaben der entsprechenden Nummer im Alphabet zuzuordnen ist. Mit Toilettenpapier, das mit drei Blatt pro Tag strengstens rationiert ist, als Schreibgrundlage und abgebrannten Streichhölzern als Stiften, um die Felder zu zeichnen, fertigt sich Kluge ein Schachbrett an. Die Figuren entstehen aus Mörtel und Brotkrumen. So kann er mit dem Häftling in der Nebenzelle Schach spielen. Nach acht Tagen ist dieser aber plötzlich weg. „Schach war für mich acht Tage eine Lebenshilfe“, zieht Kluge Bilanz über diese Zeit der Haft.

Das Urteil für den versuchten Fluchtversuch lautet ein Jahr und sechs Monate, da der Angeklagte dem SED-Staat als politisch-moralisch gefährlich gilt und er einen Angriff auf die Staatsgrenze verübt habe. Er bilde zudem eine große Gefahr für den Frieden. Ein junger Mann, der die DDR verlassen will, gilt dem Staat als Kriegstreiber!

Nach mehrfachen Verlegungen in verschiedene Gefängnisse, wird Kluge überraschend in ein Büro geführt. Der dort sitzende Stasi-Offizier lässt ihn wissen: „Sie sind nicht würdig, unter sozialistischen Verhältnissen zu leben, wir entziehen Ihnen die Staatsbürgerschaft.“ Hartwig Kluge wird ausgebürgert, ursächlich dafür ist der von der BRD praktizierte Häftlingsfreikauf.

Nach einem Jahr Haft vollzieht der SED-Staat selbst, was die Flucht bewirken sollte: Kluge kann die DDR veranlassen.

Michaela Gerhardt